"Gesunder Darm"
von Christina Wiedemann
Experteninterview mit Dr. Claudia Thiel
Frau Dr. Thiel, welche Ernährungsgewohnheiten belasten den Darm?
C. Thiel: Unser Darm benötigt eine ausgewogene und vielseitige Ernährung, reich an Ballast- und Vitalstoffen, um all seine Funktionen optimal zu erfüllen. Diese bekommt er am besten über Gemüse, Salat, Hülsenfrüchte, Vollkornprodukte und Obst. Wer darauf verzichtet, belastet nicht nur seine Verdauung, sondern auch den gesamten Stoffwechsel und sein Immunsystem. Besonders störend wirkt sich hier ein hoher Zuckerkonsum aus. Dabei werden ungünstige Keime wie beispielsweise Pilze oder Fäulnisbakterien gefüttert, die dann vermehrt Gase oder auch Giftstoffe produzieren. Auch kann ein häufiger Genuss von Fertigprodukten durch die Beifügung chemischer Substanzen wie Aromastoffen oder Konservierungsmitteln zur Belastung unseres Darmes beitragen.
Gibt es weitere Einflüsse, die sich negativ auf den Darm auswirken?
C. Thiel: Es gibt vielzählige individuelle Unverträglichkeiten, die Beschwerden im Darm hervorrufen können. Diese können genetisch bedingt oder mit der Zeit erworben sein. Bei empfindlichen Menschen spielen auch emotionale Belastungen eine Rolle in der Darmgesundheit. Dabei klagen die Betroffenen über Bauchschmerzen, Durchfall oder auch Verstopfung.
Was hält die Darmflora gesund?
C. Thiel: Die Darmflora, neuerdings intestinale Mikrobiota oder Mikrobiom genannt, setzt sich aus mehr als 1000 verschiedenen Arten zusammen. Eine hohe Diversität, also Artenvielfalt, der Darmkeime trägt entscheidend zu unserer Gesundheit bei. Eine vielseitige Ernährung mit verschiedenen Ballaststoffen bietet da ein optimales Futter und erhält die Balance zwischen „guten“ und „schlechten“ Keimen. Diese Präbiotika sind Oligo- oder Polysaccharide, die aus für den Menschen nicht spaltbaren Ketten verschiedener Zucker bestehen. Deswegen dachte man früher, sie wären für unseren Körper nur Ballast und nannte sie Ballaststoffe. Während „gute“ Bakterien die Darmbarriere stabilisieren, kurzkettige Fettsäuren bilden, schädliche Keime abwehren und die Vitamine B und K produzieren, sind „schlechte“ hingegen für die Förderung von Entzündungen sowie die Bildung von Giftstoffen verantwortlich und greifen die Darmbarriere an.
Empfehlen Sie die Einnahme von Probiotika-Präparaten, und wenn ja, wann ist sie sinnvoll?
C. Thiel: Ich bin ein Fan von Probiotika! Denn ein gesunder Darm ist die Wurzel der Gesundheit. Am häufigsten verordne ich Probiotika bei Verdauungsstörungen, um das Darmmikrobiom wieder in die Balance zu bringen. Unsere Darmkeime haben außerdem über die „DarmHirn-Achse“ Einfluss auf unser Nervensystem, verbessern den Stoffwechsel über eine Beeinflussung der Leberfunktion, unterstützen über das Immunsystem unsere Krankheitsabwehr und wirken entzündungshemmend. So setze ich es bei Hautproblemen, Allergien, rheumatischen Erkrankungen, Übergewicht, Diabetes und Leberproblemen ein. Auch die Stimmung lässt sich durch Probiotika positiv beeinflussen. Für die konkrete Wirkung ist die Auswahl der Bakterienstämme entscheidend.
Sind probiotische Trinkjoghurts empfehlenswert?
C. Thiel: Probiotische Trinkjoghurts sind lecker und vorbeugend möglicherweise hilfreich. Der Nachteil ist, dass sie nur einen ein zigen Bakterienstamm und viel Zucker enthalten. Bei Beschwerden ist das nicht ausreichend. Sie sind also keine Dauerlösung.
Welche Vorteile bietet eine ballaststoffreiche Ernährung?
C. Thiel: Eine ballaststoffreiche Ernährung verbessert die Verdauung, senkt das Risiko für Zivilisationskrankheiten wie Diabetes und HerzKreislauf-Erkrankungen und reduziert das Risiko, an Krebs zu erkranken.
Wie kann man bei ballaststoffreichen Lebensmitteln wie Hülsenfrüchten, Kohl etc. Blähungen am besten entgegenwirken?
C. Thiel: Leider entstehen bei der Verdauung von Ballaststoffen immer auch lästige Gase. Das ist besonders ausgeprägt, wenn der Mensch diese Kost nicht gewohnt ist. Deswegen nutzen wir zur Zubereitung von Schwerverdaulichem traditionell Gewürze und Kräuter wie Kümmel, Fenchel, Anis, Wacholder, Pfefferminz, Kamille oder Majoran.
Kann es zu einem Nährstoffmangel kommen, wenn man auf bestimmte Lebensmittel verzichten muss?
C.Thiel: Der Mensch ist ein „Allesfresser“ und auf eine vielfältige Ernährung angewiesen. Immer wenn die Vielfalt, warum auch immer, eingeschränkt wird, besteht das Risiko für einen Nährstoffmangel.
Ist es sinnvoll, auf bestimmte Lebensmittel zu verzichten, auch wenn keine Diagnose vom Arzt vorliegt?
C.Thiel: Grundsätzlich ist aus ernährungsmedizinischer Sicht ein kompletter Verzicht auf bestimmte Lebensmittel ohne ärztliche Diagnose nicht sinnvoll. Insgesamt sollte unsere Ernährung so natürlich wie möglich sein. Das bedeutet, dass wir verarbeitete Lebensmittel nur in Maßen verzehren sollten. Dazu zählen auch zuckerreiche Lebensmittel wie Süßigkeiten und Gebäck sowie Weißmehlprodukte. Nicht wenige Menschen vertragen speziell Weizen nicht so gut, sodass ein Verzicht auf Weizen durchaus sinnvoll sein kann, obwohl keine Allergie vorliegt.
In den letzten Jahren ist auch immer von Weizensensitivität (Glutensensitivität) die Rede. Wie kann diese diagnostiziert werden und welche Ernährungsempfehlungen können Sie geben?
C. Thiel: Bei der Glutensensitivität müssen zwei Formen unterschieden werden, die häufig vermischt werden. Die eine Form ist die klassische Zöliakie. Hierbei handelt es sich um eine immunologische Erkrankung des Dünndarms, bei der sich Antikörper gegen Gluten (Klebeeiweiß aus Getreide) und andere Eiweiße wie Gliadin im Blut finden. Durch die chronische Dünndarmentzündung kommt es zu einer Störung der Nährstoffaufnahme, Durchfällen und Mangelerscheinungen. Etwa ein Prozent der Bevölkerung ist betroffen und muss ein Leben lang streng auf Gluten verzichten.
Die Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität (auch Weizensensitivität genannt) dagegen zeichnet sich durch Beschwerden wie Bauchschmerzen, Blähungen, depressive Stimmung, Benommenheit oder auch Aphten an der Mundschleimhaut aus, die durch Weizen, oder seltener anderem Getreide, ausgelöst werden und nach Weglassen von Getreide besser werden. Der Entstehungsmechanismus dieser Überempfindlichkeit ist bisher ungeklärt. Da eine Reduktion des Getreidekonsums zu einer Beschwerdebesserung führt, ist die Karenz auch für eine begrenzte Zeit empfehlenswert. Ob nur Weizen oder auch andere Getreidesorten ursächlich sind und welche Menge gerade noch vertragen wird, muss individuell ausgetestet werden. Vorsicht ist aber geboten, da viele Menschen sich unnötigerweise in ihrer Lebensmittelauswahl zu stark einschränken. Hier ist eine medizinische Ernährungsberatung angezeigt.
Wie kann eine Weizensensitivität von einer Weizenallergie unterschieden werden?
C. Thiel: Die Weizenallergie ist eine schwerwiegende Erkrankung, die man sowohl im Blut als auch bei der Allergietestung auf der Haut (Pricktest) nachweisen kann. Hier verursachen spezifische IgE-Antikörper allergische Reaktionen, die von einer leichten Hautrötung über asthmatische Beschwerden bis hin zum lebensbedrohlichen anaphylaktischen Schock reichen können. Neben einem absoluten Verzicht auf Getreide ist oft eine antiallergische Therapie notwendig. Von der Weizensensitivität spricht man dann, wenn sowohl eine Zöliakie als auch die Weizenallergie ausgeschlossen ist.
Antibiotikabehandlungen sind schädlich für den Darm, wie gehen Sie hier vor?
C.Thiel: Grundsätzlich gebe ich zum Antibiotikum ein geeignetes Multi-Stamm-Probiotikum dazu. Das sind Produkte, die mehrere Probiotika-Stämme enthalten und so die Schäden durch das Antibiotikum möglichst gering halten.
Wie kann man eine Nahrungsmittelintoleranz diagnostizieren?
C. Thiel: Die häufigste Nahrungsmittelintoleranz ist die Laktoseintoleranz. Hier kann Laktose (Milchzucker) aufgrund eines erworbenen Enzymmangels nicht gespalten werden, was zu Blähungen und Durchfall führt. Die Diagnose wird bei Ihrem Arzt mit einem Atemtest gestellt. Die Fruktoseintoleranz ist auch ein angeborener Enzymdefekt, kommt aber sehr selten vor. Häufig dagegen ist die Fruktoseunverträglichkeit, die auf einer gestörten Aufnahme von Fruktose aus dem Darm beruht. Auch hier gibt es einen Atemtest. Des Weiteren gibt es unzählige Nahrungsmittelunverträglichkeiten, die durch Selbstbeobachtung festgestellt werden. Labortests sind nur begrenzt hilfreich und führen oft zu Verwirrung.
Worin liegt der Unterschied zwischen einer Nahrungsmittelintoleranz und einer Nahrungsmittelallergie?
C. Thiel: Eine Nahrungsmittelintoleranz ist vergleichsweise harmlos und macht meist nur Verdauungsstörungen (siehe oben). Die Nahrungsmittelallergie dagegen ist eine IgE-vermittelte, spezifische immunologische Reaktion auf ein Lebensmittel und kann lebensgefährlich sein. Die Symptome treten meist sofort auf. Es kommt zu Kribbeln oder Schwellungen im Mund oder an den Lippen, Bauchschmerzen, Hautausschlag, Atembeschwerden bis hin zu Kreislaufreaktionen und Schock. Die häufigste Nahrungsmittelallergie im Kindesalter ist die Erdnussallergie und bei Erwachsenen die Hühnereiweiß-Allergie. Des Öfteren sind noch Allergien auf Milcheiweiß, Gluten, Fisch, Krustentiere, Nüsse und Senf. Oft gibt es auch Kreuzallergien mit Baumpollen und Gräsern und betreffen zahlreiche Obst- und Gemüsearten.
Wie kann man herausfinden, auf welche Nahrungsmittel man allergisch reagiert?
C. Thiel: Bei typischen Symptomen sollte die Allergiediagnostik durch einen erfahrenen Allergologen durchgeführt werden. Dort macht man sowohl eine Hauttestung wie auch Laboruntersuchungen.
Vielen Dank für das Gespräch.
(Das Interview führte Christina Wiedemann. Es wurde redaktionell bearbeitet.)
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