"Basenfasten"

von Pepe Peschel

Experteninterview mit Dr. Claudia Thiel


Frau Dr. Thiel, jede biochemische Reaktion ist sensibel vom pH-Wert in unserem Körper abhängig. Störungen des Systems Säure-Basen-Haushalt sind sogar relativ häufig, werden jedoch in der schulmedizinischen Praxis oft übersehen. Woran liegt das eigentlich?
C. Thiel: In der Schulmedizin spielt der Säure­Basen­Haushalt tatsächlich eine eher untergeordnete Rolle. Seine Wichtigkeit wird zwar in keiner Weise infrage gestellt, dabei jedoch vor allem der pH­Wert des Blutes betrachtet. Und der bleibt selbst bei chronisch kranken Patienten*innen oder nach sehr großer körperlicher Anstrengung zumeist kons
tant, das heißt, im Normbereich. Anderenfalls würde auch Lebensgefahr bestehen. Und genau auf diese Situationen ist man in der Schulmedizin spezialisiert – auf die pathologische Ansammlung von Säuren beziehungsweise den Verlust von Basen im Körper, die man an einem arteriellen pH­Wert unter 7,37 erkennt und als Azidose bezeichnet. Vor allem in der Notfallmedizin und auf Intensivstationen wird das Säure­Basen­Verhältnis streng überwacht, um bei Abweichungen unmittelbar eingreifen zu können. 

Die Naturheilkunde kennt darüber hinaus aber auch den Begriff der latenten Azidose – ist also Übersäuerung nicht gleich Übersäuerung?
C. Thiel: Den Bereich, in dem wir von einer latenten Übersäuerung sprechen, können Sie tatsächlich nicht im Blut messen. Doch aus naturheilkundlicher Sicht sind viele chronische Leiden Folge einer solchen latenten Azidose. Dabei ist bereits ein Ungleichgewicht im Säure­Basen­Haushalt vorhanden, das sich aber nicht durch eine Abweichung des Blut­pHWerts zeigt. Deswegen beschäftigen sich Naturheilkundler*innen und Ganzheitsmediziner*innen unter anderem auch mit der extrazellulären Matrix. Das ist der (aus Fasern und einer wässrigen Grundsubstanz bestehende) Gewebeanteil, der zwischen den Zellen im sogenannten Interzellularraum liegt und ein 
ganz wichtiges Transportmedium für die Ernährung jeder Körperzelle darstellt. Herrscht dort ein Säureüberschuss vor, sprechen wir über einen bedeutenden Risikofaktor für praktisch alle Zivilisationskrankheiten. Ob eine Arthrose, ein Diabetes oder eine chronische Schmerzerkrankung. Ob der*die Einzelne hier Handlungsbedarf hat, kann ein Tagesprofil des Urin­pH­Werts zeigen.

Wie sollte der Urin-pH denn aussehen?
C. Thiel: Er schwankt in Abhängigkeit von der Nahrungsaufnahme im Verlauf des Tages. Beim gesunden Menschen entsteht so eine Zickzackkurve, die insgesamt der Form des Buchstabens M gleicht – mit zunächst sauren Werten morgens und jeweils etwa 1 bis 2 Stunden zeitversetzt nach den Hauptmahlzeiten basischen Werten, also deutlich über pH 7. Mit solchen Schwankungen im Tagesprofil kann man von einem ausgeglichenen Säure­Basen­Haushalt ausgehen. Misst man dagegen relativ konstant saure pH­Werte, ist das ein Hinweis auf eine latente Übersäuerung. Der Urin­Teststreifen belegt, dass die Nieren permanent Säuren ausscheiden müssen. Ursache kann zum Beispiel ein Mangel an wichtigen Mineralstoffen und Spurenelementen sein.

Kann sich das auch an für latente Übersäuerung typischen Beschwerden zeigen?
C. Thiel: Häufig klagen die Patienten*innen zunächst über Kopfschmerzen, Migräne oder auch Antriebslosigkeit. Viele denken sich auch erst einmal nichts dabei. Doch dann kommt es immer wieder zu unspezifischem Unwohlsein, Muskel­ und Gelenkbeschwerden oder Hautunreinheiten. Das Problem ist, dass in dieser sauren Stoffwechsellage auch freie Radikale leichtes Spiel haben. Das heißt, über sehr lange Zeit können unbemerkt chronisch­entzündliche Prozesse voranschreiten und vielen Zivilisationskrankheiten den Weg ebnen.

Auf welche Warnsignale sollte man da noch achten? 
C. Thiel: Übersäuerte Patienten*innen fühlen sich oft verkatert wie nach einer durchgefeierten Nacht, haben ihren Brummschädel aber nicht nur für einen Tag, sondern bei chronischer Übersäuerung eben dauerhaft. Dazu kommt in der Regel das Phänomen, im Berufsalltag nicht mehr im gewohnten Maße leistungsfähig zu sein. Nervosität oder Konzentrationsstörungen sind weitere typische Symptome. Schließlich führt die Übersäuerung zu starken Schmerzen, weil sich Körpergewebe in seiner Struktur verändert – praktisch als Müllhalde für die Säurelast herhalten muss. Zu den Folgeerkrankungen gehören auch Gicht oder Weichteilrheuma. 

Könnte man auch so weit gehen zu sagen, dass durch Übersäuerung Alterungsprozesse beschleunigt voranschreiten? 
C. Thiel: Ganz sicher ist das so. Schon alleine vor dem Hintergrund, dass die Abwehrkraft des Organismus negativ beeinflusst wird. Da brauchen wir uns nur unseren schnelllebigen Alltag und die zumeist ebenso schnelle und oft völlig unausgewogene Ernährung anzuschauen. Durch einen solchen Lebensstil erhöht sich das Risiko für Insulinresistenz, Diabetes, Bluthochdruck, Herzleiden oder Wirbelsäulenerkrankungen enorm. Oft geht dieser Entwicklung Übergewicht oder eine Adipositas, die Fettleibigkeit, voraus. Der Körper bekommt zwar reichlich Energie, sprich Kalorien, zugeführt. Doch ihm fehlen wichtige Basenbildner, das heißt, Mineralien, die einen steigenden Säuregrad ausbalancieren können. Die optimale Versorgung der Zelle mit Nährstoffen und Sauerstoff sowie der Abtransport von Stoffwechselendprodukten sind nicht mehr garantiert. Zusammenfassend kann man sagen, dass die chronisch­latente Übersäuerung nahezu alle Zell­, Organ­ und Körperfunktionen beeinträchtigen und ja, auch die Alterung vorantreiben und letztlich sogar zur Krebsentstehung beitragen kann.

Entscheidender Faktor ist also der Lebensstil, um all diese Folgen zu vermeiden … 
C. Thiel: Jeder hat bestimmte Kapazitäten, mit denen er seinen Säure­Basen­Haushalt in Balance halten kann. Und natürlich ist hier zumeist die Herausforderung im Alter größer. Beispielsweise auch in puncto ausreichender Bewegung. In jeder Lebensphase körperlich aktiv zu bleiben, spielt übrigens eine sehr entscheidende Rolle, weil man über die Atmung oder besser gesagt das Abatmen von großer Säurelast relativ schnell positiv auf den Säure­ Basen­Haushalt einwirken kann. Bei zu wenig Bewegung werden diese Entgiftungskapazitäten in Form einer Abatmung von Säuren über die Lungen aber nicht ausgeschöpft.

Wie sieht es eigentlich mit dem sauren Aufstoßen und Sodbrennen aus, sind diese Beschwerden nicht auch typisch für eine Übersäuerung?
C. Thiel: Ja, auch Sodbrennen weist unter anderem auf ein Ungleichgewicht im Säure­Basen­Haushalt hin. Bei saurem Aufstoßen versucht der Magen nichts anderes, als Säureüberschuss loszuwerden. Bei starkem Überschuss kommt es dann dazu, dass saurer Speisebrei oder purer Magensaft nach oben in die Speiseröhre gepresst wird. Mindestens 50 Prozent meiner Patienten*innen klagen tatsächlich darüber, ebenso über Magenbeschwerden oder Völlegefühl. Langfristig kann eine permanente Übersäuerung die Schleimhaut des Magens und des Zwölffingerdarms dauerhaft schädigen.

Was kann schlimmstenfalls passieren, wenn das nicht behandelt wird?
C. Thiel: Es kann zum Beispiel zu einer Magenschleimhautentzündung oder zu einem Magengeschwür kommen. Wer länger andauernde Beschwerden im Magen­Darm­Bereich hat, sollte diese deswegen immer ärztlich abklären lassen. Noch besser ist es natürlich, frühzeitig mit Lebensstilmaßnahmen zu beginnen: mit einer ausgewogenen basischen 
 Ernährung und täglicher Bewegung. Viele, die sich dazu aufraffen, sind oft positiv überrascht, wie einfach und wie schnell man Beschwerden wie Sodbrennen und saures Aufstoßen beispielsweise mithilfe einer voll wertigen und basenüberschüssigen Ernährung bessern kann.

Sie meinen Säureblocker, die es auch als frei verkäufliche Präparate gibt?
C. Thiel: Säureblocker können je nach Situation sehr effektiv, mitunter auch ein Segen sein. Auf der anderen Seite sollten sie natürlich nicht eingeworfen werden wie Bonbons. Das kann große Schäden anrichten und langfristig zu einem Mangel an Vitamin B12 führen, wie wir auch aus Studien wissen. Und die möglichen Folgen einer B12­Unterversorgung wiederum reichen von einer Anämie bis hin zu einer Demenzerkrankung. Säureblocker sollten also wenn, dann nur kurzfristig beziehungsweise temporär zum Einsatz kommen.

Bei allem, was wir jetzt schon besprochen haben, wird für mich klar, dass die Konsequenzen einer chronischen Übersäuerung offensichtlich immer noch unterschätzt werden. Vor allem bei einem stressigen Alltag mit vielfältigen körperlichen und emotionalen Anforderungen …
C. Thiel: Da gebe ich Ihnen recht. Schon alleine die Tatsache, dass biologisches Leben für die meisten Stoffwechselfunktionen ein basisches Milieu benötigt, spricht für die Notwendigkeit und Nützlichkeit eines nachhaltigen gesunden Lebensstils – und eben auch für eine natürliche Entsäuerung als ganzheitliches Heilmittel.

Und das ein Leben lang.
C. Thiel: Genau. Und natürlich reicht da eine einzige Maßnahme wie gelegentliches Nordic Walking oder Joggen nicht aus, solange die tägliche Ernährung insgesamt zu säurelastig ist und bleibt. Also: Nur regelmäßig Sport zu betreiben und zu schwitzen reicht nicht aus, um eine durch falsche Ernährung stetig sich ansammelnde Säurelast zu reduzieren. Wenn Sie die Säure­Basen­Balance dauerhaft stabilisieren wollen, brauchen Sie vor allem Mineralstoffe und Spurenelemente, wie Magnesium, Kalzium, Kalium oder auch Zink und Kupfer. Sprich eine vorwiegend pflanzenreiche Kost aus hauptsächlich Gemüse, Salat, Obst und Kräutern. Das heißt nicht, dass man auf Fleisch oder Fisch verzichten muss, aber es sollte bei jeder Mahlzeit immer eine ordentliche Menge an Basenbildnern dabei sein.

Ich denke, es fehlt einfach oft das Wissen, was überhaupt säurebildend, was basisch wirkt. Beim klassischen Brot, das mit in die Uni oder zur Arbeit genommen wird, denkt man zum Beispiel: Super, damit mache ich auf jeden Fall alles richtig. Viel Getreide ist gesund. Das stimmt aber gar nicht – jedenfalls nicht pauschal, oder?
C. Thiel:
Brot ist nicht gleich Brot. Wenn Sie sich als Business­Lunch ein Vollkornbrot statt Weißmehlprodukte mitnehmen, sind Sie schon einmal gut aufgestellt. Denn darin ist das volle Korn mit den äußeren Häutchen enthalten, die bei der Weißmehlproduktion zum Beispiel entfernt werden. In den Randschichten des Korns sitzen die wichtigen Mineralien, die Basenbildner. Essen Sie also Vollkorn­ statt Weißbrot, entscheiden Sie sich mit Blick auf das enthaltene Verhältnis der Vitalstoffe inklusive wichtiger Ballaststoffe für das eindeutig bessere Lebensmittel. Essen Sie im Alltagsstress aber vorwiegend nur die nahezu überall angebotenen vitalstoffarmen Weißmehlprodukte, führt das zwangsläufig zur Übersäuerung.

Im Zweifel gilt also: Qualität vor Quantität. Trifft es das?
C. Thiel: Verzicht ist in der Ernährung nie eine Lösung. Verzichten wir auf etwas beziehungsweise ernähren wir uns zu einseitig, müssen wir das ja mit etwas anderem kompensieren, um Mangelerscheinungen und Krankheitsrisiken aufgrund von möglichen Vitalstoffdefiziten zu vermeiden. Und übrigens auch Heißhunger. Beispiel: Sie verzichten auf Fleisch und/oder andere tierische Produkte, weil Sie sich vegetarisch oder vegan ernähren möchten. Dann muss über andere Lebensmittel die Versorgung mit beispielsweise Vitamin B12 oder Eisen sichergestellt sein, weswegen individuell auch Nahrungsergänzungsmittel sehr sinnvoll sein können. Grundsätzlich ist der Mensch nun einmal ein Mischköstler. Und wie dieser Name schon sagt, besteht eine artgerechte Ernährung für uns aus einer guten Mischung und Kombination möglichst naturbelassener Lebensmittel.

 

Vielen Dank für das sehr informative und spannende Gespräch.

 

(Das Interview führte Pepe Peschel, es wurde redaktionell bearbeitet und gekürzt.)

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